Einführung in Textanalyse und Textinterpretation


Teil II: Analyse und Interpretation von Gedichten

Übersicht
Stand 05-08

0 Vorbemerkung

I Metrum und Rhythmus

II Reim und Kadenz

III Form und Inhalt
        Rilke: Das Karussell
        Dehmel: Die Schaukel

Kleiner Test zur formalen und sprachlichen Analyse und zur Terminologie
        Kreuzworträtsel zur Terminologie
        Sprachliche und formale Mittel in J.W. von Goethe: Willkommen und Abschied

IV Die Welt des Gedichtes als eine Welt der Bilder

V Einzelne Gedichte und Interpretationsansätze

Hoddis: Weltende
Gryphius: Es ist alles eitel
Trakl: Die schöne Stadt
Wolfenstein: Städter
Storm: Die Stadt
Hesse: Im Nebel
Celan: Die Halde - oder Was mache ich mit einem Gedicht, mit dem ich zunächst nichts anfange

VI Aufsatzlehre Gedichtinterpretation
Versuch einer schematischen Darstellung

VII Terminologie der Gedichtinterpretation


Bei den meisten Gedichten werden nur einzelne Aspekte kurz angesprochen. Für Gesamtinterpretationen, die man in diese Seite als Anregung und Diskussionsstoff integrieren kann, würde ich mich sehr freuen, wie auch über Kritik, Kommentare und Anregungen.

Aus urheberrechtlichen Gründen können hier nicht alle Gedichte vollständig zitiert werden.

© Michael Breddin
e-mail: Michael.Breddin@3b-infotainment.de
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O Vorbemerkung


Gedichte gelten heute bei Schülern häufig als antiquiert, um es höflich auszudrücken. Gefühlsduselei, geschraubte Sprache, realitätsfern und nichtssagend sind vermeintliche Eigenschaften einer literarischen Form, der man sich nur zu schnell verschließt, da sie sich einem nicht sofort öffnet. Dabei verbirgt sich hinter Gedichten häufig eine ganze Welt en miniature. Man benötigt nur den Schlüssel um Zugang zu dieser Welt zu finden. Und häufig genug liegt der Schlüssel in einem einzigen, vielleicht winzigen Erlebnis, einer Assoziation, einem Bild. Und dieses verselbständigt sich, zieht eine ganze Bilder- und Gedankenwelt nach sich. Und so unterscheidet sich die Lyrik auch von jeder anderen literarischen Gattung durch ihre Dichte, durch ihr Spiel mit Gefühl und Sprache, mit Form und Aussage.





  5




10
Siehst du den silbrig glänzenden Tau auf dem Rasen?
Hörst du die unbestimmten Klänge des Tagesanbruchs?
[...]
Nein!
Du siehst nur unerbittlich vorrückende Uhrzeiger;
du hörst nur die schrillen Mißklänge der Fabriksirenen;
[...]
Du taumelst blind, taub, ohne Geruchssinn
und gefühllos durch das Leben,
geformt nach dem Bild deiner Millionen Geschwister.

Wilfried Bernert

Dieses Gedicht hat zunächst keine der so häufig abfällig genannten Eigenschaften. Keine Strophenform, keinen Reim, kein Metrum, das gesucht und bestimmt werden müsste, keine abgehobene Sprache, unverständliche Bilder ... Der 15jährige Autor schafft es aber Soll und Haben unserer Wahrnehmung der uns umgebenden Realität und damit diese selber zu charakterisieren und durch die Gegenüberstellung in Form von Fragen und Feststellungen den Leser zum Nachdenken und zu einer eigenen Stellungnahme zu bewegen.
Gedichte also nur deswegen von vorne herein abzulehnen, weil uns viele auf den ersten Blick oder nach dem ersten Lesen unverständlich erscheinen oder weil wir meinen, mit Balladen bereits genug genervt worden zu sein, mag manchem zwar logisch erscheinen, ist aber zu kurz gedacht. Sobald wir die Möglichkeit akzeptieren, dass Lyrik eine Möglichkeit ist, den Teil unserer gegenwärtigen, einer vergangenen oder vielleicht künftigen Realität darzustellen, der sich einer handlungsgebundenen Rationalität zunächst entzieht, ist bereits viel gewonnen. Anders ausgedrückt, wir hören gute Chansons und Songs gerne, sehen in ihnen einen Teil unserer Realität widergespiegelt, lehnen aber Gedichte einfach ab. Wir nehmen gerne den Rhythmus von Rapsongs auf, akzeptieren dort die verwegensten Aussagen und Bilder, bei Gedichten jedoch sperren wir uns von vorne herein. Vielleicht sollten wir nur anfangen, Goethes Erlkönig oder Schillers Bürgschaft elektronisch zu unterlegen, zu rappen, einen Blues daraus machen oder in Bilder umzusetzen - und wenn auch nur um anschließend wieder zum unvergleichlichen Original zurückzukehren.
Lassen wir uns also einfach unvoreingenommen auf das Abenteuer "Lyrik" ein.

Vereinzelt habe ich versucht, Bildimpulse anzubieten, die vielleicht den Einstieg über eine mögliche Visualisierung erleichtern sollen. (Vgl. auch: http://www.3b-infotainment.de/unterricht/impulstx.htm)


I Metrum und Rhythmus


Das Metrum gibt die Folge der betonten und unbetonten Silben an. Grundlage ist die normale Abfolge von betont-unbetont, die fester Bestandteil des individuellen Wortes ist. Bei dem Wort Liebe ist die erste Silbe betont, die zweite unbetont, also Xx, verlieben hat die Abfolge xXx. Diese natürliche Folge von betont-unbetont wird in der Lyrik häufig zu einem festen Schema, dem Metrum.
In den folgenden Gedichtausschnitten bezeichnet x eine unbetonte, X eine betonte Silbe.

Verschneit liegt rings die ganze Welt, x X x X x X x X
Ich hab nichts, was mich freuet, x X x X x X x
Verlassen steht der Baum im Feld, x X x X x X x X
Hat längst sein Laub verstreuet. x X x X x X x

Eichendorff, Mitternacht

Hier wird bereits deutlich, dass neben das schematische Metrum der Rhythmus als wesentliche Kategorie tritt. Unter Rhythmus verstehen wir die ‘natürliche’ Betonung auf Grund der „Wortfüße" oder Silben und die Betonung auf Grund der Aussage der Äußerung. Wer sagt denn, dass das „Ich" und das „nichts" in Vers 2 unbetont sein sollen. Offensichtlich liegen hier Metrum und inhaltliche Akzentuierung, also Rhythmus, im Widerstreit. Und genau dieser Widerstreit eröffnet Zugang zu einem inhaltlichen Aspekt: Im Verlauf der Jahreszeiten ist es normal, dass die Welt verschneit ist, alles verlassen wirkt und das lyrische Ich nichts hat, das es erfreut - aber muss es sich damit abfinden, muss es diese Regel der Natur nachvollziehen und sich zu eigen machen? Steht nicht häufig das ‘Ich’ im Widerstreit mit dem natürlichen Rhythmus seiner Welt? Das Interessante ist also nicht das Bestimmen des Metrums alleine, sondern der Widerstreit zwischen Metrum und natürlicher Betonung, der oft genug einen Ansatzpunkt für die Interpretation bietet.

Formal unterscheidet man zwischen dem steigenden (xX) und dem fallenden (Xx) Metrum.

Das steigende Metrum

Jambus: x X

Der Mond ist aufgegangen                             x X x X x X x
Die goldnen Sternlein prangen                        x X x X x X x
Am Himmel hell und klar.                               x X x X x X
Der Wald steht schwarz und schweiget           x X x X x X x
Und aus den Wiesen steiget                            x X x X x X x
Der weiße Nebel wunderbar.                         x X x X x X x X

Matthias Claudius

Der Zusammenhang Inhalt und steigendes Metrum springt hier sofort ins Auge: Der Mond, der aufgeht, und der Nebel, der aus den Wiesen aufsteigt. Auch die Blickrichtung hoch zum Himmel mit Mond und Sternen entspricht ganz dem gewählten Metrum.

Anapäst: x x X

Und es wallet und siedet und brauset und zischt
Wie wenn Wasser und Feuer sich mengt,
Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt,
x x X x x X x x X x x X
x x X x x X x x X
(X) x X x (X) x x X x x X

Friedrich Schiller, Der Taucher

Auch hier ist das aufsteigende Metrum inhaltlich bedingt. Wenn man Wellenbildung verfolgt, kann man das an dieser Stelle gewählte Metrum nachvollziehen. Es ist kein gleichmäßiges Auf und Ab, sondern es dauert, bis die Welle sich aufgebaut hat, dann vergeht wieder einige Zeit, bis die nächste heranrollt. Besonders schön an diesem Beispiel der Widerstreit zwischen natürlicher Betonung und Metrik. Die - vom Metrum her vorweggenommene Erwartung und Erregung - wird durch die betonte erste Silbe ausgedrückt, das Moment der Höhe ("Bis") wird im Bruch des Metrums in der fünften Silbe (sprit-) deutlich. Hier zeigt sich das kunstvolle Mit- und Gegeneinander von Metrum, Aussage und Gefühl.

Eine Ersatzprobe soll deutlich machen, wie platt und unpassend das Durchhalten des Metrums wäre:

Und der dampfende Gischt spritzt zum Himmel empor x x X x x X x x X x x X

Was hier völlig fehlt ist diese Verwunderung und Bewunderung ausdrückende Initialstellung des im Original hervorgehobenen "Bis", das den Blick automatisch nach oben lenkt.

Das fallende Metrum

Trochäus: X x

Wieviel Wege ging ich frühlingsgrün,                   X x X x X x X x X
wieviel Sommersonnen sah ich glühn!                X x X x X x X x X
Müde ist mein Schritt und grau mein Haar,        X x X x X x X x X
Niemand kennt mich mehr, wie einst ich war.    X x X x X x X x X

Müde bleibt mein dürrer Schatten stehn -          X x X x X x X x X
Einmal muß die Fahrt zu Ende gehn.                 X x X x X x X x X
Traum, der durch die bunte Welt mich zog,       X x X x X x X x X
Weicht von mir. Ich weiß nun, daß er log.           X x X x X x X x X

Hermann Hesse: Wanderer im Schnee

Bei diesem Beispiel kann man die inhaltliche Komponente des Metrums erkennen. Das lyrische Ich sinkt am Ende in den Schnee und stirbt. - Schnee, wie kühl umfängst du Stirn und Brust! / Holder ist der Tod, als ich gewußt. - Hier wird deutlich, dass das Metrum - fallend oder steigend - nicht willkürlich gewählt wurde. Das Leben neigt sich dem Ende zu, es fällt, wie auch das Metrum. Durch die jeweils betonten, männlichen Versenden kommt jedoch gleichzeitig ein weiterer Aspekt hinzu: Es ist kein Fall ins Bodenlose. So wie der negative Grundtenor am Ende aufgehoben wird - holder ist der Tod, als ich gewußt - so wird das fallende Metrum durch die durchgehend männliche Kadenz wieder aufgefangen.
Interessant ist hier auch die zunächst metrisch bedingte Initialstellung des Wortes „Traum" - das Metrum erlaubt an dieser Stelle keinen Artikel -, gleichzeitig wird hiermit Traum absolut, gesetzt,   jenseits einer näheren, eingrenzenden Bestimmung.

Die Ersatzprobe macht dies deutlich:

Der Traum, der durch die bunte Welt mich zog,
Weicht von mir.

bzw.

Ein Traum, der durch die bunte Welt mich zog,
Weicht von mir.

In beiden Fällen müssten wir fragen: Welcher Traum? und erwarteten vom lyrischen Ich eine Antwort. So aber ist es jeder Traum, den jeder für sich und ganz individuell hat. Wichtig ist nur das Wesen des Traums, das Unerreichbare, Unerfüllbare, dem wir nachjagen und über dem wir vielleicht sogar unsere eigene, individuelle Realität (und Bestimmung?) vergessen.

Dieses genaue Einhalten des Metrums wird noch dadurch unterstrichen, dass es im selben Satz durchbrochen wird: Weicht von mir. Das metrisch unbetonte „von" muss vom Sinn her betont werden. Das Lesetempo wird verlangsamt, der inhaltliche Schwerpunkt wird - noch durch das Enjambement unterstützt - gesetzt.

Daktylus: X x x

Springende Reiter und flatternde Blüten,     X x x X x x X x x X x
einer voraus mit gescheitelten Locken -      X x x X x x X x x X x
Ist es der Lenz auf geflügeltem Renner?      X x x X x x X x x X x

C.F. Meyer, Die Rose von Newport

Dieses Beispiel zeigt, wie das Metrum in Kombination mit der Lexik die Bewegung der Verse aufnimmt und sie metrisch umsetzt. Das Galoppieren wird sinnfällig.

Um ein gewähltes Metrum einhalten zu können, wird oft zum Mittel der Elision - vgl. Claudius: „die goldnen" oder Hesse: „glühn", „stehn", „gehn" - oder der Inversion gegriffen. Beide Mittel werden aber nur mit dem Inhalt und nicht gegen ihn verwendet. Eine Ersatzprobe bei Claudius macht dies deutlich:

Original:

Der Wald steht schwarz und schweiget
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Ersatzprobe:

Der Wald steht schwarz und schweiget
Und weiß der Nebel steiget
Aus den Wiesen wunderbar.

Die direktionale Adverbiale erhält hier ihren angestammten Platz im Satz. Aber zu welchem Preis! Schaut man sich die Versanfänge an, so fällt die beschriebene Dinglichkeit der Welt des lyrischen Ichs sofort auf:

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Die Initialstellung unterstreicht diese Aufzählung natürlicher Gegebenheiten: der Mond, die Sterne, der Wald und der weiße Nebel, wobei das Adjektiv „weiß" mit dem „gold" der Sterne korreliert und gleichzeitig zusammen mit dem Adverb „wunderbar" ein Gegengewicht zu dem „schwarz und schweiget" bildet und damit der Abstand zu dem ‘himmlischen’ ‘hell und klar prangen’ deutlich abgemildert wird.

Das, was Wimsatt und Beardsley als „Interplay" bezeichnen, kann hier besonders gut nachvollzogen werden. Erst das Zusammenspiel, die Interaktion der einzelnen Komponenten, Metrum, Rhythmus, Kadenz und Reim, Lexik, Satzbau und Bilder, ergibt das poetische Ganze. Und das Metrum ist kein Selbstzweck, hat keinerlei eigene inhaltliche Füllung, erfüllt aber in diesem Zusammenspiel seine Funktion und erhält in der Interaktion seine inhaltliche Füllung.

Freie Rhythmen

Die moderne Lyrik hat weitgehend die Beschränkungen durch das Metrum abgeworfen. Dies geht häufig zusammen mit dem Verzicht auf Reim und Groß-/Kleinschreibung. Die Dichtung entzieht sich somit äußeren normativen Zwängen, zeigt vielleicht aber auch auf, dass unsere moderne Welt so aus den Fugen geraten ist, dass sich die Darstellung allen äußeren Normen entzieht oder das lyrische Ich bewusst eine Gegenrealität schafft.


II Reim und Kadenz


„Reimvorschriften sind, wie alle poetischen Normen, zeitabhängig und dem historischen Wandel unterworfen" (H.W. Ludwig). Und wie das Metrum sagt das einzelne Reimschema nichts aus, es erhält aber seine inhaltliche Bedingtheit und Aussage im Zusammenspiel mit den anderen formalen, sprachlichen und inhaltlichen Komponenten.

Wir unterscheiden zwischen dem

Paarreim:
aa bb

Mitternacht schlägt eine Uhr im Tal,
Mond am Himmel wandert kalt und kahl.
Unterwegs im Schnee und Mondenschein
Geh mit meinem Schatten ich allein.

Hermann Hesse: Wanderer im Schnee
(Bildimpulse zu Wanderer im Schnee)

Kreuzreim:
abab

Als sie einander acht Jahre kannten
(Und man darf sagen, sie kannten sich gut),
Kam ihre Liebe plötzlich abhanden,
Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.

E. Kästner, Sachliche Romanze

Umarmender oder verschränkter Reim
abba

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.

Hoddis, Weltende

Identischer Reim

Alte Plätze sonnig schweigen,
Tief in Blau und Gold versponnen
Traumhaft hasten sanfte Nonnen
Unter schwüler Buchen Schweigen.

Georg Trakl, Die schöne Stadt

Trakl verwendet hier zweimal ein identisches Reimwort: Schweigen.

Unreiner Reim

Der unreine Reim ist häufig dialektbedingt:

Ach neige
Du Schmerzensreiche

Goethe, Faust I

Die Blätter an den Bäumen kann man zählen.
An manchen Zweigen schaukeln nur noch drei.
Der Wind wird kommen und auch diese stehlen.
Er stiehlt und findet nichts dabei.

 Erich Kästner, Elegie nach allen Seiten

Wie der Titel des Gedichtes vermuten lässt, wird der unreine Reim hier als ironisierendes Element verwendet.

Ein Blick auf das ganze Gedicht macht dies deutlich.

Waise

Ein einzelner Vers in einem Gedicht, der sich nicht auf einen anderen Vers reimt.

Männlicher Reim

Ein Reim, der aus einem einsilbigen Wort besteht und damit betont ist.
vgl. das Reimpaar in Kästner: Sachliche Romanze: "gut" - "Hut"

Weiblicher Reim

Ein Reim, der aus einem zwei- oder mehrsilbigen Wort besteht, bei dem die letzte Silbe unbetont ist.
vgl. das Reimpaar: "versponnen" - "Nonnen" in Trakls: Die schöne Stadt.

Beim männlichen Reim spricht man auch von einer männlichen Kadenz, d.h. der Vers endet betont, bzw. beim weiblichen Reim von einer weiblichen Kadenz, d.h. der Vers endet unbetont.


III Form und Inhalt


Das Karussell

Jardin du Luxembourg

01    Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
        sich eine kleine Weile der Bestand
        von bunten Pferden, alle aus dem Land,
        das lange zögert, eh es untergeht.
05    Zwar manche sind an Wagen angespannt,
        doch alle haben Mut in ihren Mienen;
        ein böser roter Löwe geht mit ihnen
        und dann und wann ein weißer Elefant.

        Sogar ein Hirsch ist da ganz wie im Wald,
10    nur daß er einen Sattel trägt und drüber
        ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

        Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
        und hält sich mit der kleinen heißen Hand,
        dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

15    Und dann und wann ein weißer Elefant.

        Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
        auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
        fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
        schauen sie auf, irgendwohin, herüber -

20    Und dann und wann ein weißer Elefant.

        Und das geht hin und eilt sich, daß es endet,
        und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
        Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
        ein kleines, kaum begonnenes Profil -.
25    Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
        ein seliges, das blendet und verschwendet
        an dieses atemlose blinde Spiel...

Rainer Maria Rilke

Auffallend die verschiedene Strophenlänge:
8 - 3 - 3 - 4 - 7

Parallel zu den einzelnen Strophen die Gliederung:
Vorstellung des Karussells
Die einzelnen Kinder/Heranwachsenden:
exemplarisch:     ein Mädchen
                         ein Junge
als Gruppe:        fast schon erwachsene Mädchen
Das Karussell in voller Fahrt

Auffällig ebenfalls die Wiederholung eines Verses in Vers  8 - 15 - 20

Die verkürzten Abstände lassen auf die Kreisbewegung und die zunehmende Geschwindigkeit schließen.

Diese Kreisbewegung wird noch unterstützt durch die Enjambements, z.B. V 1,2,3, V. 10, 11, 12, V. 17, 18, 19, V. 26, 27.

Das Endlose des Kreises wird durch die drei Punkte am Gedichtende (V. 27) noch einmal hervorgehoben.

Zu dieser Vielfalt verschiedener Mittel, die alle auf einen zentralen Punkt gerichtet sind, gehört auch letztendlich das ausgefeilte Reimschema. Umarmender Reim zu Beginn, am Ende Kreuzreim und umarmender Reim; der b-Reim, der sich nicht nur durch den Elefanten bis V. 20 zieht, auch V. 10, 16, 19 weisen denselben Reim auf.

Der Zusammenhang zwischen formalen Elementen und dem Inhalt wird mehr als deutlich.

Für eine weitere sprachliche Analyse sei u.a. auf die dynamischen Verben und die Farbadjektive (v.a. in V. 23 verwiesen -> wie kommt es zu der Farbe "Grau"?). Auch hier lässt das lyrische Ich das Karussell in seinem Wesen, nicht in seiner Dinglichkeit lebendig werden.


Die Schaukel

01    Auf meiner Schaukel in die Höh,
        was kann es Schönres geben!
        So hoch, so weit! Die ganze Chaussee
        und alle Häuser schweben.

05    Weit über die Gärten hoch, juchhee,
        ich lasse mich fliegen, fliegen;
        und alles sieht man, Wald und See,
        ganz anders stehn und liegen.

        Hoch in die Höh! Wo ist mein Zeh?
10    Im Himmel! Ich glaube, ich falle!
        Das tut so tief, so süß dann weh,
        und die Bäume verbeugen sich alle.

        Und immer wieder in die Höh,
        Und der Himmel kommt immer näher;
15    und immer süßer tut es weh -
        der Himmel wird immer höher.

 R. Dehmel

Metrum - Jambus - und Kadenzen - abwechselnd männliche und weibliche Kadenz - machen das Auf und Ab der Schaukel deutlich.
Der schnelle Wechsel von Hoch und Tief kommt deutlich in den Zäsuren in V. 9,10 zum Ausdruck.
Das weit Ausladende der Schaukelbewegung - "So hoch, so weit! (V. 3) - wird durch das Enjambement (V. 3/4) noch unterstrichen. Auch die Repetitio in V. 6 nimmt dieses Motiv noch einmal auf., wie auch der Auftakt in V. 14, durch den die männliche Kadenz aus V. 13 gleichsam in der Schwebe gehalten wird, ein Mittel, das in V. 5 bereits angewandt wird und hier das noch einmal aufgenommene Motiv der Weite hervorhebt.
Der in diesem Gedicht insgesamt ausgeprägte Widerstreit von Metrum und Rhythmus steht in vollem Einklang mit den Gefühlen, vgl. V. 11 "süß" - "weh" und die Steigerung in V. 15 "immer süßer tut es weh".

Es zeigt sich wieder, dass formale Elemente inhaltlich funktional eingesetzt werden. Es versteht sich von selbst, dass sie erst im Zusammenspiel mit den sprachlichen Mitteln für eine aussagekräftige und belegbare Interpretation genutzt werden können.

So wie Inhalt und Sprache sich gegenseitig bedingen, so können sich Inhalt und Form gegenseitig ergänzen.


IV Die Welt des Gedichtes als eine Welt der Bilder


Wie das Drama von der Handlung, von Intrige, Liebe, Mord usw. lebt, die Kurzgeschichte vom kurzen Aufblitzen unserer Realität in einer Momentaufnahme und der Roman von der Darstellung einer - bekannten oder unbekannten - Welt, so lebt das Gedicht von Bildern. Im Gedicht wird nicht beschrieben, im Gedicht wird auch nicht in erster Linie gehandelt - und wo dies der Fall ist, so ist in der Regel die Handlung wieder ein bildhafter Ausdruck, ein Symbol - sondern es wird ein Ausschnitt der Realität - vergleichbar der Malerei - in Bilder umgesetzt.

Die folgenden beiden Gedichte sollen einen ersten Einstieg in diese Welt sprachlicher Bilder darstellen.

1. Der Enkel trinkt

Christa Reinig

Was Reinig als „unsern Amoklauf" (V. 10) bezeichnet, schlüsselt sie in einer Reihe von Bildern auf, die sie in einer logischen Folge aneinander reiht. Vom Fortschritt der Verse 1 und 2 kommt es zum zerstörerischen Element, logisch durch das Motiv der Atome verbunden. Hier schließt sich auch der Bildbereich der 2. Strophe logisch an - der Glaube, einen Atomkrieg in Schutzräumen zu überleben. Gleichzeitig taucht auch hier wieder das Element der schon fast sexuellen Anziehungskraft von Zerstörung und künstlichen Formen auf, vgl. 'Stahl küssen, der die Brücken spannt', "versunken im rhythmus" und "erotische nacht". Und am Ende „zerstäubt" (V. 11) das Hirn, dieses Wunderwerk, das uns all diese Errungenschaften erst möglich macht, und der Schädel wird zu einem Trinkgefäß für ferne Nachfahren. (ausführlichere Interpretation)

2. Noch einen Schritt weiter geht Hans Magnus Enzensberger in seinen Gedichten. Er geht von einem einzigen Bild aus, das dann in eine ganze ‘Bilderflut’ eingebettet wird, die zunächst keinen logischen Zusammenhang aufzuweisen scheint.

Sein Gedicht "Isotop" ist ein besonders gutes Beispiel

(Wandelanleihe: Schuldverschreibung, die auf Wunsch in eine Aktie umgewandelt werden kann
al pari: Kurswert = Nennwert)

Schlüssel zu diesem Gedicht ist die Sintflut („die nächste Sintflut [...], V. 2). Von diesem alttestamentarischen Bild der Sintflut als Strafe Gottes, die sich "nicht recht bewährt" hat (vgl. hierzu auch V. 10-12) lassen sich alle anderen Bilder der ersten 8 Verse erschließen. Zum Ursprungsbild gehören der „andrang zum ararat" (V. 5), einem Berg in der Türkei, auf dem die Arche Noah schließlich gestrandet sein soll, und die „tauben mit oder ohne ölzweig"; Noah sandte eine Taube aus um zu sehen, ob der Wasserstand irgendwo bereits wieder im Sinken begriffen war. Zu dem Motiv der Sintflut, d.h. einer Überflutung weiter Landstriche, gehören auch die Alpenvereine (Flucht in die Berge), die Hochspannungsmasten - wo kann man im Flachland schon hochklettern -, auf denen sich dann Majore und Kühe - welch ironische Kombination - treffen, die Klempner, die für Rohrbrüche zuständig sind, sowie das Bild vom geplatzten Inlett - man stelle sich nur vor, ein Federbett (Inlett) reißt z.B. beim Aufschütteln und alle Federn fliegen in unserem Zimmer umher.

Aber wie in vielen anderen Bereichen, haben wir Menschen den ‘lieben Gott’ bereits längst überholt, so wird die nächste Sintflut auch seicht sein (V. 2), daher müssen wir nicht einmal Regenschirme aufspannen. Dass das lyrische Ich hier aber nicht unbedingt - wenn überhaupt - an Atombomben denkt, wird in den Versen 18-21 deutlich, in denen die neue Sintflut als „tau", „ausschlag", „heiserer hauchdünner schweiß" charakterisiert wird.

Wie auch bei Reinig eine Art Endzeitstimmung. Und wie bei Reinig der Gebrauch des Präsens, den "Amoklauf", zur Gegenwartsrealität werden läßt; ist bei Enzenberger die „zeit der versuche" vorbei und die „dürre flut" „kriecht längst" „aus den poren der welt".

Bei beiden Gedichten geht es uns hier aber nicht um das Motiv Zerstörung oder der Mensch und die göttliche Ordnung, sondern um das Bild, das im Mittelpunkt eines Gedichtes steht und dessen Dreh- und Angelpunkt ist.

Die Arbeit mit Bildern macht Enzensberger in einem Vortrag über "Die Entstehung eines Gedichts" deutlich. Da Vergleiche, Metaphern etc. ein so wesentliches Element der Lyrik sind, seien hier einige seiner Ausführungen wiedergegeben.
Enzensberger führt für das Verstehen des Vorgangs des Dichtens E.A. Poe an, den er wie folgt zitiert: "Meine Absicht geht dahin, dass sich keine einzige Stelle dieses Gedichts [Poe bezieht sich hier auf sein Gedicht: "The Raven"] dem Zufall oder der Inspiration verdankt, dass es vielmehr, Vers für Vers, mit derselben Genauigkeit und Logik aufgebaut ist wie die einzelnen Sätze eines mathematischen Beweises." Enzensberger zitiert in seinem Vortrag Valéry, der von dem Dichter als einem "literarischen Ingenieur" spricht, er führt Gottfried Benn an, der den Dichter dazu auffordert, "das künstlerische Material kalt zu halten". Alle drei Aussagen haben eines gemeinsam: Der Dichter hat eine Ausgangsidee, so wie der Ingenieur oder der Mathematiker auch. Auf diese Idee folgt nun aber auch beim Dichter nicht eine Flut von Inspirationen, ein Dichten im Rausch, sondern das bewusste, zunächst emotionslose - s. Benn - Konstruieren. Schritt für Schritt, mit stetiger Überprüfen des bisher Geleisteten und planendem Entwerfen des Folgenden.
Enzensberger macht dies im Nachvollziehen der Entstehung eines Gedichtes deutlich:

Zustand 1: etwas, das
Zustand 2: etwas, das keinen namen hat, etwas zähes

Deutlich wird hier bereits die schrittweise Annäherung an dieses etwas, das der Dichter offensichtlich selber noch mit keinem Namen benennen könnte, von dem er nur eine Eigenschaft kennt: etwas zähes.

Zustand 3: etwas, das keinen namen hat, etwas zähes
trieft aus den verstärkerämtern, davon
die Sanatorien sich wie segel aufblähn;
davon der salm in den flüssen stirbt,
und der butt im meer.
der himmel,
von radarspinnen zugewebt, und der sommergeruch
nach phlox und resolutionen

Er bezeichnet diesen 3. Zustand als "offensichtlich mangelhaft". "Ein Sanatorium kann sich nicht aufblähen, und schon gar nicht wie ein Segel". [Schlussfolgerung: Bilder unterliegen unserer Vorstellungskraft und deren Logik, sie dürfen zwar 'kühn', ungewöhnlich, ja sogar paradox sein, sie müssen aber immer nachvollziehbar sein]. Enzensberger führt in seinem Vortrag weiter aus, dass dieses etwas durch die direktionale Adverbiale und die finalen Nebensätze genauer definiert wird: "Dieses Etwas ist offenbar in der technischen Zivilisation [-> Verstärkerämter] zu Hause: mithin kein ahistorisches Gespenst, sondern etwas, das sich in der Geschichte, in unserer Geschichte ausbreitet, ohne dass wir es auf Anhieb beim Namen nennen könnten. Die Folgen dieser Ausbreitung sind verhängnisvoll [...]; denn es stirbt daran, wie der Text sagt, "der salm in den flüssen" und "der butt im meer."

Zustand 3:
zweiter Teil
...die ämter mauscheln,
in den kokereien steigt etwas zähes auf
in die luft, und auf der helling* die tanker
wissen es schon, eh der lotse kommt,
getuschel um professuren, in den druckereien
rüstet das tückische blei auf,
gegen uns geht es, gegen die austern
und  das getreide, und wir schlafen
wie geiseln in brennenden hemden.

* helling - Werft, Schiffsbauplatz

Zu diesem Stadium führt Enzensberger aus: "Auch hier ist die Textur vorläufig ganz lose. Die einzelnen Angaben sind ungenügend verzahnt. Der Schreiber tastet sich weiter vor in die technische, in die verwaltete Welt, in der sich 'etwas' ausbreitet. [...] Das Vokabular lebt aus einer analogen Spannung und zwar zwischen dem Einfachen und dem Speziellen, dem ganz Allgemeinen und dem höchst Besonderen, dem Elementaren und dem Technologischen; - also auf der einen Seite Etwas, zäh, Himmel, Sommer, Segel, Luft, Meer; auf der anderen Seite Verstärkeramt, Radarspinne, Resolution, Sanatorium, Kokerei."
Interessant bei Enzensbergers Nachvollziehen der Entstehung dieses Gedichtes ist seine Arbeit an dem Bild von den 'Sanatorien, die sich wie Segel aufblähen'. Er sagt hierzu: "Das schiefe Bild mutet wie ein schlichter Kunstfehler an. Hören Sie aber, wie sich diese Stelle in der nächsten Fassung ausnimmt:

etwas, das keine farbe hat, bläht
die blutigen segel der hospitäler

Wie Sie sehen, verbarg die ursprüngliche Fassung eine Absicht, die noch nicht zu sich selbst gekommen war: sie war eine Abbreviatur [Verkürzung] als ein 'Fehler'. Sie gab einen Vergleich, dessen Mittelglied [tertium comparationis] ausgefallen war: nämlich das Laken, das sich, wie ein Segel, im Wind bläht."

Dieser kleine Exkurs macht wohl deutlich, wie sorgfältig und überlegt, ja konstruierend der Lyriker Enzensberger arbeitet. Und dass eine so bewusst gebaute Bilderwelt dem Leser und Interpreten natürlich wieder viel Arbeit abverlangt, versteht sich wohl von selber.

Zum Schluss dieses Teils noch ein ganz 'einfaches' Gedicht, das auf einem einfachen Bild beruht, aus dem es seine ganze Aussagekraft bezieht und das gleichzeitig aufzeigt, dass Lyrik seit Anbeginn vom und durch das Bild lebt:

dû bist mîn, ich bin dîn;
des solt dû gewis sîn,
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist daz slüzzelîn;
dû muost immer darinne sîn
Du bist mein, ich bin dein;
dessen sollst du sicher sein,
du bist eingeschlossen/verschlossen
in meinem Herzen;
verloren ist das Schlüsselein;
du musst immer darinnen sein

 


V Einzelne Gedichte und Interpretationsansätze


Weltende

Jakob van Hoddis

Text

Mögliche Ansatzpunkte für eine Analyse und Interpretation

Der Titel erweckt bestimmte Erwartungen: Weltende = Chaos, unvorstellbare Zerstörung, Angst, Verzweiflung.
Diese Erwartungen werden teilweise erfüllt: "Geschrei", abstürzende Dachdecker   => starke Winböen (vgl. V. 1), steigende Flut (-> steigendes Metrum, Jambus), Sturm, wilde Meere, Dämme, die zerdrückt werden, von Brücken stürzende Eisenbahnen -> ein Szenario für einen Katastrophenfilm. Aber das ist nicht das ganze Gedicht: die Dachdecker "gehn entzwei" - ein Ausdruck, der in Bezug auf Menschen stutzig macht; die "wilden Meere hupfen" - wie kann ein wildes, aufgepeitschtes, sturmflutartiges Meer mit einer so leichten Bewegung wie "hupfen" (Oxymoron) in Verbindung gebracht werden, v.a. da es durch den finalen Nebensatz ("um dicke Dämme zu zerdrücken") noch personifiziert wird?, das Enjambement wirkt hier noch verstärkend, die "Eisenbahnen fallen von den Brücken" - wenn man sich den Vorgang und die Reaktion der Betroffenen vorstellt, ist "fallen" wohl unpassend, wie auch die lapidare Feststellung: "Die meisten Menschen haben einen Schnupfen" - eine Mitteilung, die angesichts des 'Weltendes' von unterstgeordneter Bedeutung ist. In diesen Zusammenhang passt auch das Distanzierende "liest man" (V. 4).
Parallel hierzu ist auch das Reimschema zweigeteilt: umarmender Reim V. 1-4, Kreuzreim V. 5-8; diesem entspricht die männliche Kadenz in der ersten und die weibliche in der zweiten Strophe.
Fragen, die sich an das Gedicht ergeben:
Ist das Weltende bereits so alltäglich?
Sieht man bereits überall ein Weltende so undramatisch?
Steht das lyrische Ich über den Dingen und konstatiert - insgeheim kommentierend - ein Geschehen?


Es ist alles eitel

01    Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.                     These
        Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;                           Beispiele (Aufgesang)
        Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein,                                     Motiv Vergänglichkeit
        Auf der ein Schäferskind wird spielen mit der Herden. 

05    Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden;
        Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
        Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.                             Motiv materielle Zeitlichkeit
        Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

         Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.                 Abstraktion (Abgesang)
10    Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn?                     von du, dieser, jener... zu DER Mensch
        Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten,                              Rückbezug zum Vergänglichen, Materiellen

        Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind,             Wertung
        Als eine Wiesenblum, die man nicht wieder findt!
        Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten.                 Schlussfolgerung + Motiv spirituelle Ewigkeit

 Andreas Gryphius

Befund:
typisches Sonett
Versform: Alexandriner (6-hebiger Jambus mit Zäsur nach der 3. Hebung)
Aufgesang: 2 x 4 Verse mit These und Beispielen, kontrastive Versgestaltung, umarmender Reim (abba cddc)
Abgesang: 2 x 3 Verse mit Abstraktion und Schlussfolgerung, (eef ggf)


Die schöne Stadt

        Alte Plätze sonnig schweigen,
        Tief in Blau und Gold versponnen
        Traumhaft hasten sanfte Nonnen
        Unter schwüler Buchen Schweigen.

5      Aus den braun erhellten Kirchen
        Schaun des Todes reine Bilder,
        Großer Fürsten schöne Schilder,
        Kronen schimmern in den Kirchen.

        Rösser tauchen aus dem Brunnen,
10   Blütenkrallen drohn aus Bäumen,
        Knaben spielen wirr von Träumen
        Abends leise dort am Brunnen.

        Mädchen stehen an den Toren,
        Schauen scheu ins farbige Leben.
15    Ihre feuchten Lippen beben,
        Und sie warten an den Toren.

        Zitternd flattern Glockenklänge,
        Marschtakt hallt und Wacherufen
        Fremde lauschen auf den Stufen,
20   Hoch im Blau sind Orgelklänge.

        Helle Instrumente singen,
        Durch der Gärten Blätterrahmen
        Schwirrt das Lachen schöner Damen,
        Leise junge Mütter singen.

25   Heimlich haucht an blumigen Fenstern
        Duft von Weihrauch, Teer und Flieder.
        Silbern flimmern müde Lider
        Durch die Blumen an den Fenstern.

Georg Trakl (1887 - 1915)

Aufgabenstellung:

Interpretieren Sie bitte dieses Gedicht.
Achten Sie dabei bitte besonders darauf, inwieweit die durch den Titel geweckte Lesererwartung im Gedicht selber bestätigt wird. Zeigen Sie auf, wie das lyrische Ich diese Stadt sieht und wie es dies sprachlich umsetzt.

Lösungsansatz:

A Formaler Befund:
7 Strophen à 4 Versen
Metrum: Trochäus, durchbrochen in V. 14 und 25, Widerstreit mit Rhythmus in V.16
Reim: umarmender Reim, durchgehend weibliche Kadenz, äußeres Reimpaar durchgehend identischer Reim
Schlussfolgerung: äußerlich auf den ersten Blick ein 'geordnetes' Gedicht, das dem Titel "Die schöne Stadt" und damit der Lesererwartung durchaus entspricht.

B Sprachlicher Befund
Auf der einen Seite Idylle, auf der anderen Seite zunächst als störend empfundene Elemente.

Farbadjektive: blau, gold, silbern braun
evaluative und deskriptive Adjektive: sanft, rein, schön (2x), farbig, hell, blumig schwül, müde
Adverbien: sonnig, traumhaft, leise (2x), scheu wirr
Verben: schweigen, schimmern, spielen, flattern, lauschen, singen (2x), hauchen hasten, drohen, beben
alte Plätze, Buchen, Kirchen, Kronen, Brunnen, Glockenklänge, Orgelklänge, Damen, Duft, Weihrauch, Flieder Tod, Blütenkrallen, Marschtakt, Wacherufen, Teer

Diese Gegenüberstellung macht deutlich, dass Trakl nicht bei der Beschreibung einer idyllischen (Residenz)Stadt (Kronen, große Fürsten) mit Brunnen, Stadttoren und Villenviertel (Strophe 6) stehen bleibt. Die Personen machen dies deutlich: Da "hasten" Nonnen, die Knaben spielen "wirr", die Mädchen schauen "scheu" und ihre Lippen "beben", die Damen und jungen Mütter blicken "müde" (s. "müde Lider). Auch die Natur wird in dieser Ambivalenz gesehen: Da ist die Rede von 'schwülen Buchen", von Blütenkrallen, von "Duft von Weihrauch, Teer und Flieder". Gerade der Geruchssinn, der hier am Schluss angesprochen wird, signalisiert deutlich Etwas, das dem Schönen, Reinen, Hellen gegenübergestellt wird: Etwas Schweres, Betörendes (vgl. auch das Element "schwül" in V. 4). Bei genauem Hinsehen lässt sich dieser Zwiespalt durch das ganze Gedicht verfolgen und macht auch den Reiz dieses Gedichtes aus.
Und dieser Zwiespalt beherrscht auch die Jugend dieser Stadt: Die Knaben spielen "wirr von Träumen" (wovon träumen sie?) und die Mädchen stehen mit bebenden Lippen scheu an den (Stadt)Toren (worauf, auf wen warten sie, welche Erwartungshaltung haben sie [-> 'farbiges Leben'] und welche Gefühle beherrschen sie [-> 'feuchte Lippen beben']?).

Ein ganz anderes Bild einer Stadt und seiner Bewohner zeichnet Alfred Wolfenstein

Städter

Alfred Wolfenstein

Text

Interessant bei diesem Gedicht die Verwendung des Enjambements in der ersten Strophe, das die langen Straßenfluchten augenfällig macht. Interessant ebenfalls die Personifikation der Häuser, die sich 'anfassen' (V. 2f) und dem kontrastiv gegenübergestellt die Verdinglichung der Menschen ("zwei Fassaden Leute", V. 6f). Offensichtlich hat hier ein Rollentausch stattgefunden. Zu beachten auch der Vergleich "grau geschwollen wie Gewürgte" (V. 4), wobei die Alliteration den Vergleich noch verstärkt und unterstreicht. Zu untersuchen wäre das Paradoxon 'jeder nimmt teil' (V. 11) und 'ein jeder steht fern und fühlt alleine' (V. 15), u.a. auch im Zusammenhang mit den beiden Bildern "unsere Wände sind so dünn wie Haut" (V. 10) und "[...] wie still in dick verschlossner Höhle" (V. 13) sowie die Reihung "Flüstern, Denken [...] Gegröle" (V. 12) [Klimax?]. Eingehen könnte man auch an die formale Anlehnung an die Sonettform.

Als Kontrast ein drittes Stadtgedicht

Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
5 Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn Unterlaß;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
10 Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
15 Du graue Stadt am Meer.

Theodor Storm (1817 - 1888)

Anregung für einen möglichen Interpretationsaufsatz:

In dem vorliegenden Gedicht "Die Stadt" von Theodor Storm, zeichnet das lyrische Ich ein Stimmungsbild seiner Heimatstadt.

Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils 5 Versen. Das Metrum ist der Jambus. Alle Verse haben eine männliche Kadenz. Das steigende Metrum und die betonten Versenden entsprechen der 3. Strophe, in der das lyrische Ich die Stadt nach den ersten eher negativen Eindrücken in Strophe 1 und 2 preist. Das Reimschema ist der Kreuzreim, abab, wobei das zweite 'a' jeweils doppelt auftritt. Gleichzeitig wird der a-Reim der ersten Strophen in der 3. Strophen als b-Reim wiederholt, womit rein äußerlich ein Rahmen geschaffen wird.

In der ersten Strophe entwirft das lyrische Ich zunächst ein recht düsteres, tristes Bild einer Stadt, die es als bekannt voraussetzt - es wird der bestimmte Artikel verwendet: "die Stadt" (V. 2) -, aber nicht näher benennt. Die düstere Stimmung wird vor allem durch das Adjektiv 'grau`, das im ersten Vers gleich zweimal verwendet wird, und die Adverbien "schwer" (V. 3) und "eintönig" (V. 5) hervorgerufen. Zu dieser Stimmung passt auch die Lage der Stadt: "seitab", d.h. fern von allem anderen, und der Nebel, der schwer auf die Dächer drückt. Die Wiederholung in Vers 1: "Am grauen [...], am grauen [...]", die schmucklose nur durch "und" verbundene Aufzählung in V. 1/2 und 3/4 sowie das Enjambement in Vers 4/5 und die hervorhebende Initialstellung des Adverbs "eintönig" am Anfang des Verses 5 verstärken noch diesen Eindruck einer andauernden Eintönigkeit.

Die Natur als negativ handelndes Element - grauer Nebel, der schwer drückt, und Meer, das eintönig braust - wird in der zweiten Strophe weiter verfolgt. Hier fällt v.a. die zweimalige Negation - "kein" in V. 6 und 7 - auf. Diese Negation wird durch das Enjambement und die Initialstellung des zweiten "Kein" noch verstärkt. Alles, was man vielleicht erwartet und was dieses triste Bild beleben könnte, was Leben ausdrückt wie rauschender Wald oder singende, zwitschernde Vögel, fehlt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch "die Wandergans" (V. 8), die "mit hartem Schrei nur" (V. 8f) vorbeifliegt. Zunächst wird hier die ununterbrochene Einsamkeit hervorgehoben, vom Mai in V. 6 bis zur Herbstnacht in Vers 9, d.h. im Frühling und Sommer und damit in den Jahreszeiten, in denen normalerweise das Leben blüht und gedeiht, bieten die Stadt und die Natur kein anderes Bild als im Herbst oder Winter - grauer Strand, graues Meer, Nebel. Zugleich wird durch die Wandergans deutlich, dass hier kein Lebewesen auf Dauer seine Heimat findet. Nur die Wandergans, deren 'harter Schrei' (V. 8) wieder in dieses negative, unnatürliche Bild passt, fliegt vorbei. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch lyrische Elemente, die hier verneint eingebaut werden, so z.B. das Rauschen des Waldes (V. 6), das Schlagen der Vögel im Mai (V. 6f), mit dem hier traditionelle Elemente angesprochen werden.

Nach dieser negativen Einstimmung überrascht das lyrische Ich in der dritten Strophen durch dieses an den Vers- und Strophenanfang gesetzte "Doch" in V. 11. Zwar wird die erste Strophe und damit der erste Eindruck durch die Komprimierung der Teile 'grau, Meer und Stadt' zu "graue Stadt am Meer" wieder aufgenommen, aber bereits durch die persönliche Beziehung, die durch die zweimalige Anrede "Du" und das dreimal verwendete Personalpronomen "dir" (V. 12, 15 und V. 11,14) erzeugt wird, wird eine andere Stimmung geschaffen. Die Stadt wird hier personifiziert, sie wird persönlich angesprochen. Und in dieser Strophen taucht auch das einzig positiv belegte Adjektiv - "lächelnd" (V. 14) - auf. Die Einstellung des lyrischen Ichs zu dieser Stadt wird darüber hinaus in V. 11 - "hängt mein ganzes Herz an dir" - deutlich. Das Herz, das an etwas hängt, steht als Symbol für Verbundenheit, noch verstärkt durch das Adjektiv "ganz". In V. 13 gibt das lyrische Ich mit dem 'Zauber der Jugend' eine Begründung für sein Verhältnis zu dieser auf den ersten Blick 'grauen' und 'eintönigen' Stadt. Hier hat es offensichtlich eine schöne Jugend verbracht, die es fast übernatürlich anmutet, vgl. das Motiv "Zauber" (V. 13). Die in Strophe 1 und 2 festgestellten Verdoppelungen lassen sich auch in dieser Strophe finden, nur dass sie hier fast liedartigen Charakter haben: "für und für" (V. 13) und "auf dir, auf dir" (V. 14). In der Dopplung "für und für", d.h. immer, zu jeder Zeit, wird zudem die Zeit wie in der 2. Strophe wieder aufgenommen, nur diesmal positiv. Während sich in Strophe 2 an dieser unnatürlichen Stille das ganze Jahr über nichts ändert, so bleibt der "Zauber" bis heute bestehen.

Interessant ist, dass im ganzen Gedicht nicht von den Menschen dieser Stadt, von Gebäuden, Straßen oder Plätzen die Rede ist. Es fehlt eigentlich alles, was man zunächst bei dem Titel "Die Stadt" erwartet. Für das lyrische Ich zählt offensichtlich nur die Natur, die trotz allem Negativen in Strophe 1 und 2 doch eine positive Stimmung oder Erinnerung in ihm erzeugt, wobei das Positive nur mit "der Jugend Zauber" (V. 13) und nicht mit individuellen Erlebnissen begründet wird. Damit bietet es dem Leser die Möglichkeit, eine solche Erfahrung unabhängig von seinen eigenen, individuellen Erfahrungen nachzuvollziehen.


Hermann Hesse: Im Nebel

Text

Bildimpuls

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Möglicher Interpretationsansatz:
Realer Ausgangspunkt: Wanderung im Nebel. Übertragung der Situation des lyrischen Ich durch Personifikation auf die Natur (V. 2/3). Gegensatz zu früher (Präteritum) kennzeichnet Wanderung als Metapher. Aufheben des bitteren Untertons (V. 5) in der dritten Strophe ("wahrlich keiner ist weise"). Teilweiser Wechsel der Metapher zu Gegensatz Hell - Dunkel ("licht", V.6  <-> "Dunkel",   V. 10). Schicksal als natürlicher Verlauf ("unentrinnbar und leise", V. 11), bereits in V. 7 angedeutet ("[...] Nebel [...] fällt"). Verallgemeinerung in Strophe 4 "Leben ist Einsamsein" (V. 14), "kein Mensch" (V. 15), "jeder" (V. 16).


Die Halde

Paul Celan

Text

Bildimpuls

halde1.jpg (41204 Byte)

Zeichnung; Carolin Rode©

Wahrscheinlich wird es vielen eben so ergehen wie mir: Gedicht gelesen, nichts verstanden, Fazit: Was soll's.
Damit gibt sich jedoch bis heute noch kein Lehrer zufrieden und der Leser selber auch nicht, denn ein Text will ja verstanden sein, zumindest will man selber einen Zugang finden.

Mein Vorschlag: Lesen und das herausholen, mit dem man etwas anfängt und sich dann von dort weiter hangeln.

Neben mir lebst du -> mir muss das lyrische Ich sein, wer ist dann das du? Das nächste Personalpronomen (wir) deutet ebenfalls auf eine weitere Person hin.
Ein zweites menschliches Wesen bietet sich in dem Wort Geliebte an.
Wir haben also ein lyrisches Ich und (s)eine Geliebte
Beide werden mit einem Stein verglichen: als ein Stein
Der Vergleich scheint im Augenblick noch nicht schlüssig, also suchen wir weiter nach Stein: In Vers 6 wird der Vergleich zu einer eindeutigen Metapher: wir Steine, wobei das wir unseren Befund: lyrisches Ich und Geliebte = Stein unterstützt. Das Motiv Steine lässt sich nun leicht weiter verfolgen: rollen (V. 5), runder (V. 7). Über das Rollen und runder erschließen sich logisch die zeitliche und örtliche Komponente (pausenlos, von Rinnsal zu Rinnsal) Steine rollen abwärts, von Rinnsal zu Rinnsal lässt auf abwärts fließendes Wasser schließen, vielleicht im Gebirge, folglich ist auch die Halde logisch integriert. Wir sind also nun bei einem Bergabhang mit kleinen Wasserläufen, in denen Steine langsam abwärts rollen und sich dabei naturgemäß durch Reibung und Wasser langsam abschleifen -> runder von Mal zu Mal. Damit werden sie auch immer ähnlicher, individuelle Kanten verschwinden, sie werden abgeschliffen, was am Schluss bleibt - in der Halde, also unten am Abhang - ist ein kleiner, glatter, runder Kieselstein. Aber nun kommt das fremder!? Zurück zum Ausgangspunkt: Stein gleicht lyrisches Ich und Geliebte, die zusammen leben, zusammen diesen Weg machen, sich angleichen. Aber Achtung: Erstes Wort im Gedicht: Neben mir lebst du, gleich mir - hier steht nicht 'Mit mir lebst du'. Nebeneinander leben bedeutet im Gegensatz zu miteinander leben eine gewisse Unpersönlichkeit, eine Fremdheit -> fremder. Das gleich mir kann sich sowohl darauf beziehen, dass nicht nur sie neben ihm, sondern auch er neben ihr (daher)lebt, gleichzeitig ist es das Bindeglied zum nächsten Vers: als ein Stein; beide sind sie Steine. (Ein typisches Arbeiten mit mehreren, gleichzeitigen Ebenen).
Jetzt können wir vielleicht auch den Vers in der eingesunkenen Wange der Nacht knacken:
Wange - Nacht - Geliebte wird zunächst eindeutig positiv assoziiert. Eingesunkene Wange entspricht aber gleichzeitig als Bild der Halde, real gesehen kann man eingesunkene Wange mit Unwohlsein, Krankheit, ja Tod assoziieren - womit die Nacht eine neue Bedeutung bekommt.
Hier ließe sich als erster Interpretationsansatz dann das Sterben einer Liebe (Geliebte - fremder) herausholen, wobei das Sterben dieser Liebe nicht durch irgendein äußeres oder inneres Ereignis oder Geschehen hervorgerufen wird, sondern ganz einfach durch dieses gemeinsame pausenlos rollen von Rinnsal zu Rinnsal. Pausenlos, ohne Unterbrechung, ohne Highlight (nur von Rinnsal zu Rinnsal). Und dieses dauernde Zusammenleben ohne Höhepunkte macht sie auf der einen Seite immer ähnlicher, auf der anderen Seite immer fremder. Die gemeinsamen Punkte und Reibeflächen werden wie bei den Steinen gegen Null reduziert (man klebe zwei runde Steine aneinander).
Celan gibt sich aber damit leider noch nicht zufrieden. Er bringt ein drittes Wesen ins Spiel: dieses trunkene Auge. Das wie wir gibt einen ersten Anhaltspunkt. Das Umherirren, das die drei verbindet, bringt eine neue Komponente ins Spiel: nicht nur pausenlos, sondern auch ziel- und orientierungslos (umherirren) sind sie auf ihrem Weg. Vom Bild des Bergabhangs und der Halde ausgehend, muss das Auge über ihnen sein. Auge in der Kunst häufig Darstellung für Gott, der alles sehende, alles erkennende und alles wissende. Und der schaut die beiden als eins an -> ähnlicher, beide Krone der Schöpfung etc. Warum dann staunend? Staunt man manchmal nicht auch selber über das, was aus einer Beziehung, einer großen Liebe im Laufe der Zeit wird oder geworden ist, ganz ohne spektakuläre Ereignisse, Zerwürfnisse? Religiös gesehen könnte also auch Gott (oder "jenes höhere Wesen, das wir verehren", um Bölls Dr. Murkes gesammeltes Schweigen zu bemühen) staunend auf das Ergebnis schauen: da liegen sie nun nebeneinander, kaum zu unterscheiden und doch so fremd. In einer säkularisierten Interpretation kämen wir hier sogar ohne "Gott" aus. Ein anderer, der ziellos umherirrt, betrachtet die beiden, von denen er annimmt, dass sie Liebe verkörpern, und sieht sie als nebeneinander liegende Kieselsteine unter all den anderen Kieselsteinen in der (Geröll)Halde: der moderne Mensch in der modernisierten Welt: Ein Interpretationsansatz eines Schülers, der mehr als nur einen Gedanken wert ist.

Sie sehen, ein vielleicht zunächst unverständliches Gedicht kann durchaus einen Sinn ergeben, wenn ich nur geduldig nach dem Schlüssel suche, die erste Tür aufschließe und mich dann behutsam am 'Hinweis im nächsten Raum' weitertaste. Und vielleicht muss ich, wie bei einem (Computer)Spiel manchmal einen oder ein paar Schritte zurück, ein Mosaiksteinchen, das zu passen schien wieder zurücklegen und es mit einem anderen Puzzlestück erneut probieren. Aber genau das ist eines der Highlights beim Umgang mit Gedichten, das langsame, kreative, sich selber einbringende Annähern an einen poetischen Text.

Vielleicht haben Sie aber auch einen ganz anderen Schlüssel zu diesem Gedicht. In diesem Fall würde es mich freuen, wenn ich Ihren Interpretationsansatz hier integrieren dürfte.

Der Bildimpuls stammt von einer Schülerin meines Grundkurses Deutsch, Klassenstufe 12


VI Aufsatzlehre
Gedichtinterpretation

Versuch einer schematischen Darstellung

 I. Einleitung

1. Gedichttitel, Autor
2. Gedichtart (Sonett, Ballade ...)
3. Gattung (Naturgedicht, Dinggedicht, Gedankenlyrik, politisches Gedicht ...)
4. Epoche (falls bekannt)
5. Themenstellung des Gedichts

 II. Hauptteil

Formale Aspekte

1. Strophen/Verse
2. Reimschema/Kadenzen
3. Metrum/Rhythmus
4. Zäsur(en)

Sprachliche Aspekte

1. Sprache - Wortwahl ð Stil (sachlich, distanziert, lyrisch, emotional ...)
2. Wortarten - hier v.a. Adjektive/Adverbien, Verben, Pronomina, Interjektionen
3. Tempus - Präsens, Präteritum, Futur
4. Satzbau
5. Bilder
6. weitere Stilmittel

1. Belege nicht vergessen
2. Wirkung und Funktion der erkannten sprachlichen Mittel

Inhaltliche Aspekte

1. Titel ó Inhalt, Erwartung des Lesers ó Erfüllung durch das Gedicht
2. inhaltliche Gliederung
3. lyrisches Ich
4. allgemeine/individuelle Erfahrung ( ð Pronomina [Personal ~/Indefinitpronomina])
5. vermittelte Stellung, Erfahrung, Sicht (z.B. Mensch/Natur/Umwelt ...)
6. Assoziationen

Die formalen, sprachlichen und inhaltlichen Aspekte können und dürfen im Aufsatz selber natürlich nicht so getrennt voneinander stehen, wie hier in der schematischen Übersicht. Alle drei Aspekte sind  Bestandteile des Gedichtes. So wird man formalen und sprachlichen Elementen immer auch eine inhaltliche Zuordnung geben, wie man auf der anderen Seite die inhaltliche Aussage nicht von der formalen und sprachlichen Ausgestaltung trennen kann.

III. Schluss

1. Wirkung insgesamt
2. Aussage zur/für Entstehungszeit/den Dichter
3. Relevanz heute


VII Terminologie der Gedichtinterpretation

Druckfassung aller Begriffe


Alle Erklärungen bieten nur einen ersten Einstieg. Über jeden Begriff ließe sich eine ganze Abhandlung schreiben.
Für weitere Fachbegriffe aus dem Bereich Textanalyse s. Textanalayse1

lyrisches Ich


Das "Ich" im Gedicht, das sich als der "Dichter" ausgibt. Das lyrische Ich und der Verfasser sind zu trennen. Hesse schrieb sein Gedicht "Wanderer im Schnee" zwischen 1919 und 1928, er selber wurde 1877 geboren und starb 1962.
Rhythmus Im Vers - Spannung zwischen Metrum und natürlicher, inhaltlicher Akzentuierung
Freie Rhythmen Reimlose Versfolgen, ohne metrisches Schema
Jambus 2-silbiger Versfuß, steigend,  xX
Trochäus 2-füßiger Versfuß, fallend, Xx
Anapäst 3-silbiger Versfuß, steigend,  xxX
Daktylus 3-silbiger Versfuß, fallend, Xxx
Alexandriner 6-hebiger -> Jambus mit ð Zäsur in der Mitte; -> Sonett, x X x X x X / x X x X x X
Auftakt eine oder mehrere unbetonte Silben vor der ersten Hebung, x | X x | X x oder x | x X | x X
Kadenz metrische Form des Versausgangs
betont = männlich, unbetont = weiblich; -> männlicher Reim, -> weiblicher Reim
unreiner Reim nur ungefährer Gleichklang, häufig dialektbedingt, -> ach neige, du Schmerzensreiche
Assonanz vokalischer Halbreim, -> Unterpfand - wunderbar
identischer Reim Reim  mit demselben Wort -> Liebe ... Liebe
Schüttelreim

Reimspiel mit den Wortbedeutungen, Vertauschung der Anfangskonsonanten
->"Fink und Star - stink und fahr

Paarreim aabb ....
Kreuzreim abab
umarmender R auch umschließender Reim: abba
verschränkter R abc abc oder abc bac
Binnenreim meistens Reim von Versmitte zu Versende -> bei stiller Nacht, zur ersten Wacht
männlicher R. einsilbig mit Hebung -> Not ... Brot, -> Kadenz
weiblicher R. zweisilbig mit Hebung auf der vorletzten Silbe, -> sagen - klagen, -> Kadenz
Waise Vers, der sich nicht in das Reimschema einbinden lässt, das heißt im Gegegnsatz zu den anderen Versen keinen Reim hat
Ballade handlungsreiches, vielfach dämonisch-spukhaftes und meist tragisches Geschehen aus Geschichte, Sage oder Mythos. Mensch im Spiel übersinnlicher Mächte -> Erlkönig, Geister am Mummelsee
Dinggedicht unpersönliche, episch-'objektive' Beschreibung in Gedichtform; hinter der Oberfläche des Dinggedichts befindet sich in der Regel immer noch eine zweite - wichtigere - Aussageebene -> Rilke, Das Karussell
Elegie Gedichtform zum Ausdruck von Trauer und Liebe
Lied einfache, strophische Gliederung, häufig allgemein gültiger Charakter, Mensch in seiner Wechselbeziehung zur Natur
Romanze wunderbare Ereignisse oder Liebesgeschichten als kurze Verserzählung in gedrängter Form, unmittelbar gemüt- und phantasieeregende Form
Sonett Gedichtform, 2 Quartette (2 Strophen à 4 Verse) und 2 Terzette, (2 Strophen à 3 Verse); äußerst strenge Form; 5-füßige -> Jamben (meistens mit Zäsur nach der 5. Silbe) ð Alexandriner; Reimschema: abba abba cdc dcd (-> umarmender Reim); Quartette: Aufgesang - Thematik an Beispielen aufgezeigt, häufig kontrastiv (s. Zäsur); Terzette: Abgesang - gedankliches Resumé
Allegorie Verbildlichung eines abstrakten Begriffes, tritt oft als => Personifikation auf -> Jusititia mit Augenbinde, Waage und Schwert
Chiffre verkürztes => Symbol, das nur aus dem Gesamtzusammenhang erschlossen werden kann. -> Stadt = Hoffnungslosigkeit in der expressionistischen Lyrik
Hyperbel Übertreibung, entweder extrem vergrößernd oder verkleinernd -> Balken im Auge, blitzschnell
Metapher bildlicher Ausdruck, in dem Vergleich und Verglichenes gleichgesetzt werden -> Achill ist ein Löwe => Vergleich
Personifikation Darstellung von etwas Unpersönlichem unter dem Bild einer menschlichen Person -> Mutter Natur, der Glaube besiegt die Furcht => Allegorie
Symbol Zeichen oder Vorgang der auf etwas anderes verweist -> Fahne, Kreuz, Abendmahl
Synekdoche engerer Begriff statt des umfassenderen -> edel sei der Mensch = alle Menschen, Dach = Haus, Schiff = Segel, vgl. pars pro toto - ein Teil steht für das Ganze
Vergleich zwei Dinge werden in einem gemeinsamen Vergleichspunkt, dem tertium comparationis, verglichen -> Achill kämpfte wie ein Löwe, der Vergleichscharakter wird durch das wie deutlich hervorgehoben => Metapher
Anakoluth Folgewidrigkeit im grammatikalischen Satzbau, Satzkonstruktion wird nicht durchgehalten -> starke Emotion
Asyndeton Reihe gleichgeordneter Wörter, Satzteile oder Sätze ohne verbindende Konjunktion -> alles rennet, rettet, flüchtet => Parallelismus
Chiasmus Überkreuzstellung -> Die Kunst ist lang und kurz ist unser Leben -> häufig Hervorhebung des Gegensatzes
Enjambement Zeilensprung, der Satz/Satzteil geht über das Zeilenende hinaus
Hypotaxe (kunstvolles) Gefüge aus Hauptsatz und untergeordneten Nebensätzen -> die Hypotaxe unterstreicht die Gleichzeitigkeit mehrerer Aktionen, sie verlangsamt die Lesegeschwindigkeit und erhöht damit die Aufmerksamkeit => Parataxe => Anakoluth
Initialstellung bewußte Platzierung eines Wortes am Satz- oder Versanfang. Meistens verbunden mit -> Inversion
Inversion Umstellung der regelmäßigen Wortstellung -> Groß ist der Wille, klein das Talent -> Hervorhebung/Betonung durch Frontstellung, Einhaltung des metrischen Schemas
Parataxe Nebeneinanderstellung gleichwertiger Hauptsätze bzw. beigeordneter Nebensätze => Hypotaxe
Parenthese Satzeinschub, meistens in Klammern oder zwischen Gedankenstrichen
Alliteration zwei oder mehr Wörter fangen mit demselben Laut an -> mit Mann und Maus => Anapher
Anapher Wiederholung des gleichen Wortes an Vers- oder Satzanfängen => Alliteration
Antiklimax abfallende Steigerung -> Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen => Klimax
Antonym Wort mit gegensätzlicher Bedeutung => Synonym
Elision Auslassen eines unbetonten Vokals, häufig um das metrische Schema einzuhalten
Euphemismus beschönigender Ausdruck -> verschlanken statt kürzen, antifaschistischer Schutzwall für die Mauer
Klimax Steigerung -> Bauern, Bürger und der Adel => Antiklimax
Litotes doppelte Verneinung, die eine absichtliche Untertreibung bewirkung soll
Montage Ineinanderveschieben sprachlicher Elemente aus verschiedenen Sprach-/Inhaltsebenen -> Bachmann, Reklame
Neologismus Wortneuschöpfung -> unkaputtbar
Onomatopoesie Lautmalerei, Wortschöpfung zum Zweck der Klangmalerei -> Gruselett von Ch. Morgenstern:
Der Flügelflagel gaustert / durchs Wiruwaruwolz, / die rote Fingur plaustert,/ und grausig gutzt der Golz.
Häufige Verwendung in der Lyrik des Expressionismus
Oxymoron Verbindung scheinbar sich ausschließender Begriffe -> helldunkel, beredtes Schweigen, alter Knabe
Paradoxon scheinbar widersinnige Behauptung -> und immer süßer tut es weh
Pleonasmus übertriebene, unnütze Anhäufung von Wörtern mit gleicher/ähnlicher Bedeutung => Tautologie
Polysyndeton Wiederholung desselben Wortes innerhalb desselben Satzes, auch in flektierten Formen -> und es wallet und siedet und zischet
Repetitio Wiederholung
Synästhesie Ansprechen von mehreren Sinnesorganen zugleich -> schreiendes Rot, helle und dunkle Töne
Tautologie derselbe Sachverhalt wird mit mehreren Wörtern mit gleicher/ähnlicher Bedeutung beschrieben -> er dreht und wendet sich => Pleonasmus
Verbalstil Verwendung vieler Verben (v.a. dynamische Aktionsverben)
Zäsur Einschnitt im Vers, häufig Versmitte -> Was dieser heute baut / reißt jener morgen ein (Gryphius, Es ist alles eitel) -> Sonett

 


Wilfried Bernert, 15 Jahre, in: Wie wir es sehen. Texte und Bilder junger Autoren, hrsg.: Hans-Georg Noack, Signal-Verlag Hans Frevert, Baden-Baden


W.K. Wimsatt jr. And Monroe C. Beardsley, The Concept of Meter: An Exerise in Abstraction. PMLA 74 (1959), 596. vgl hierzu auch E. Coseriu, Thesen zum Thema „Sprache und Dichtung", Beiträge zur Textlinguistik, ed. Wolf-Dieter Stempel, München, 1991.


H.-W. Ludwig, Arbeitsbuch Lyrikanalyse, Tübingen, 1981, S. 76


vgl. hierzu auch Enzensberger: Isotop. Auf der einen Seite stellt das Nebeneinander von Majoren und Kühen auf Hochspannungsmasten alles auf den Kopf, auf der anderen Seite knieen wir "diszipliniert" "in kuckucksuhren und jod".


Elegie nach allen Seiten

Erich Kästner

Text


Das Bild in der Lyrik

Allegorie Verbildlichung eines abstrakten Begriffes, tritt oft als => Personifikation auf -> Jusititia mit Augenbinde, Waage und Schwert
Chiffre verkürztes => Symbol, das nur aus dem Gesamtzusammenhang erschlossen werden kann. -> Stadt = Hoffnungslosigkeit in der expressionistischen Lyrik
Hyperbel Übertreibung, entweder extrem vergrößernd oder verkleinernd -> Balken im Auge, blitzschnell
Metapher bildlicher Ausdruck, in dem Vergleich und Verglichenes gleichgesetzt werden -> Achill ist ein Löwe => Vergleich
Personifikation Darstellung von etwas Unpersönlichem unter dem Bild einer menschlichen Person -> Mutter Natur, der Glaube besiegt die Furcht => Allegorie
Symbol Zeichen oder Vorgang der auf etwas anderes verweist -> Fahne, Kreuz, Abendmahl
Synekdoche engerer Begriff statt des umfassenderen -> edel sei der Mensch = alle Menschen, Dach = Haus, Schiff = Segel, vgl. pars pro toto - ein Teil steht für das Ganze
Vergleich zwei Dinge werden in einem gemeinsamen Vergleichspunkt, dem tertium comparationis, verglichen -> Achill kämpfte wie ein Löwe, der Vergleichscharakter wird durch das wie deutlich hervorgehoben => Metapher

Das vorliegende Gedicht "Der Enkel trinkt" von Christa Reinig schildert die totale Zerstörung durch den Menschen ("wir schleudern ins all unsern amoklauf") und den Beginn am Nullpunkt (der Enkel trinkt aus dem Schädel).

 Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils 4 Versen. Reinig verwendet durchgehend den Kreuzreim, der sowohl das Spannungsfeld tiefer Gefühle ("küssen", "erotische nacht") und moderner Technik und Wissenschaft ("stahl", "atome", "u-bahnschacht") als auch das Wechselspiel zwischen totaler Zerstörung ("wir schleudern ins all unsern amoklauf") und Neuanfang (V. 12/13) widerspiegelt. Auch enden alle Verse mit einer Hebung, also betont. Auch diese durchgehend verwendete männliche Kadenz hat eine inhaltliche Entsprechung, nämlich die Bewegung nach oben (Brücken, All, Aufheben des Schädels). Gleichzeitig entspricht sie dem Ende des Gedichts, an dem nicht die endgültige Zerstörung, der Tod steht, sondern das Leben, das sich immer fortsetzt. Als Metrum wird im Gegensatz zur männlichen Kadenz häufig der Daktylus, ein fallendes Metrum, verwendet. Der Widerstreit zwischen Rhythmus und Metrum betont zusätzlich die im Gedicht aufgezeigten Gegensätze zwischen Gefühl und Technik, Zerstörung und Leben. Im Gegensatz zu diesen traditionellen formalen Elementen verwendet Reinig durchweg Kleinschreibung und verzichtet auf jegliche Satzzeichen, bis auf den Gedankenstrich in Vers 11. Dies zwingt den Leser dazu ganz genau zu lesen und selber inhaltlich zu strukturieren, wobei die Sinneinheiten nicht immer eindeutig sind (vgl. V. 5-7, ein Komma nach "menschheit" ergibt einen etwas anderen Sinn als nach "u-bahnschacht"), was aber auch mehrere Deutungen zugleich zuläßt. Gleichzeitig zeigt sich hierin deutlich, daß es sich um ein modernes Gedicht handelt. [Traditionelle Formelemente sind zwar noch vorhanden, unsere moderne Welt durchbricht sie aber gleichzeitig und in zunehmendem Maße.]

Das Gedicht ist in einer einfachen Sprache gehalten, die trotz der fehlenden Großschreibung und Satzzeichen ein erstes Verstehen des Gedichtes erleichtert. Einfache Wortwahl, parataktischer Satzbau und der Verzicht auf gängige lyrische Bilder und Metaphern erleichtern das Lesen und das Verständnis. Sprachlich fällt auf, dass Reinig das Personalpronomen "wir" sehr stark betont (jeweils am Anfang der Verse 1-3, 5 und 6), d.h. nicht der Mensch allgemein oder irgendein anderer, sondern "wir" alle - ohne Ausnahme - stehen im Mittelpunkt des Gedichtes, und von uns geht alles aus, "wir sind das Subjekt, der Handlungsträger.. Parallel zu dem stark betonten "wir" wird Parallelismus verwendet, was eine gewisse Monotonie, die stetig gleich ablaufende Aktion ausdrückt. Kriege wurden immer geführt, Zerstörung gab es immer und der Mensch fand immer irgendwo einen Schutz und stand - wie der "graue Enkel" - immer wieder auf. Die verwendeten Verben spiegeln von äußerster Aktivität ("pulvern [...] zu sand", "schleudern" über 'aufheben', 'gehen' und 'trinken' bis zum inaktiven 'Überdämmern' unsere Tätigkeiten wieder, wobei mit dem Verb "küssen" der emotionale Bereich ebenfalls angesprochen wird. Der Mensch erscheint damit in all seinen Aktionen in seinen 'normalen' Tätigkeiten (V.12/13), Gefühlen (V. 1), Forschen (V. 2) und Zerstörung (V.3, 10). Auffallend ist, daß nur wenig Adjektive verwendet werden, was das Gedicht auf der einen Seite recht schmucklos erscheinen läßt (wie die modernen Steinwüsten unserer "wuchtigen Städte"), auf der anderen Seite aber die wenigen Substantive, die näher beschrieben werden hervorhebt. "Wuchtige Städte", eines der Sinnbilder unseres Fortschritts, eine "erotische Nacht" erleben wir "im Rhythmus der Geometrie" - normalerweise wird eine erotische Nacht nicht mit Wissenschaft, hier ausgerechnet der Mathematik, in Verbindung gebracht. Dieses "erotische" Verhältnis zu Wissenschaft und Technik findet sich aber auch in V. 1 (küssen den Stahl") und V. 2 ("herz der atome"). In dem Oxymoron "grauer Enkel" [grau für Alter, Enkel für Kindheit/Jugend] wird die Zeitlosigkeit, diese ständige Zerstörung und Neuanfang (Tod und Leben) besonders deutlich. Die Metapher "trommeln auf menschenhaut" macht deutlich, wie menschenverachtend unsere Aktionen sind. Wie im 3. Reich, als Menschenhaut für die Bespannung von Lampenschirmen verwendet wurde, verwenden wir sie auf unseren Trommeln, verbreiten auf ihr unsere Nachrichten (vgl. die Nachrichtentrommel) oder begleiten auf ihr unsere Zerstörung wie in den alten Kriegen, in denen die Trommler voranzogen.


Hans Magnus Enzensberger, Gedichte, edition suhrkamp, 1966, S. 55-79


vgl. hierzu auch Kreatives Schreiben